alter friedhof

Von | 2. Juni 2016

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https://de.wikipedia.org/wiki/D%C3%B6hrener_Friedhof

der alte Döhrener Friedhof ist heute ein kleiner park. paar alte grabsteine gibt es noch, aber es finden schon lang keine begräbnisse mehr statt. heute saß ich da mit meinen einkäufen und ich erinnerte mich:

an einem sonnigen tag im jahr 1966 saß ich auch hier, in einem gelb-grün-rot geringelten frottee-nicki-shirt und neuen jeans. leise heulte ich vor mich hin. der erste monat meiner lehrzeit war vorbei und ich stellte mir gerade mein weiteres leben vor. jeden tag in dieses büro gehen, wo es nach aktenstaub und zigarrenrauch stank. zu dem cholerischen chef, der sein missfallen immer schon ankündigte, bevor das gewitter dann verlässlich auf mich niederdonnerte. man hörte es nämlich klopfen, klopf klopf klopf mit dem stift auf den schreibtisch. ah, hat er wieder was gefunden, oh nein, gleich… den ersten monat verbrachte ich damit, in alten saldenbüchern die in bleistift geschriebenen zahlen mit kugelschreiber zu „überschreiben“. stunde um stunde, seite um seite. manchmal musste ich zum gericht laufen, schriftsätze hinbringen, gerichtspost abholen. da fuhr ich manchmal heimlich im paternoster, das war schön gruselig und eine tolle abwechslung. bis er mir dahinter kam, weil ich immer mehr zeit brauchte, als andere lehrlinge.

so hatte ich mir das nicht vorgestellt, so nicht. wie konnte es soweit kommen?: mit papa zur berufsberatung: werden sie anwaltsgehilfin, das hat zukunft. da muss man gut mit sprache umgehen können. das wars. und nun hockte ich in diesem fiesen stinkenden loch, von morgens 8 bis nachmittags halb 5. der papa sagte: heul nicht, lehrjahre sind keine herrenjahre. der papa sagte: höhere schule brauchst du nicht, mädchen heiraten sowieso. damals war ich sehr brav. deshalb saß ich nun auf diesem friedhof und heulte. nach der lehrzeit wechselte ich sofort in eine andere kanzlei und lernte dort sogar unseren späteren bundeskanzler kennen, der damals noch ein spilleriger junger mann im cordanzug war. da gings mir besser, die aufgaben wurden bunter und es gab keine schreigewitter mehr. trotzdem. irgendwann reichte es.

als ich dann mit 39 jahren zum ersten mal in einem hörsaal saß dachte ich leise: so, Papa, ätsch!

 

6 Gedanken zu „alter friedhof

  1. Quer

    Ach, irgendwie mussten wir fast alle einen Teil unserer Zukunftswünsche zu Grabe tragen.
    Wie tapfer du warst und wie mutig, den Schritt zum Studienglück dann doch noch zu wagen.
    Tja, das Leben!!!

    Herzlichen, etwas wehmütigen Gruss zu dir,
    Brigitte

  2. Sylvia Beitragsautor

    guten morgen Brigitte, ja, es war eine ziemlich seltsame zeit. diese meinung war sehr weit verbreitet, ich kenn einige, denen es ähnlich ging. den oldies trag ich es nicht mehr nach. aber diese „lehrzeit“ war echt grauenhaft…
    seltsam fand ich es, wie genau die erinnerung gestern kam, als ich dort saß und ins grüne schaute. sogar diesen bunten ringelrolli sah ich ganz klar.
    einen feinen freitag wünsche ich dir!
    Sylvia

  3. Hausfrau Hanna

    Aushalten und durchhalten,
    liebe Sylvia,
    waren damals ganz wichtige Anliegen der Erwachsenen an uns Jugendliche. Und sie wurden eingefordert!

    Ich habe deinen Bericht mit viel Empathie gelesen.
    Und mich gefreut über das glückliche ‚Ende’…

    Heute hat Jutta Wilke (in meiner Blogroll) ebenfalls über damals geschrieben.
    Lesenswert auch dies:
    http://juttawilke.blogspot.ch/2016/06/das-wilde-leben.html

    Mit einem herzlichen Gruss
    Hausfrau Hanna

    PS. Nicht jeder, der in einer Kanzlei seine Laufbahn beginnt, wird auch (Bundes) Kanzler 😉
    PPS. War das etwa Gerhard Schröder?!?

  4. Sylvia Beitragsautor

    :-))) – ja, das war Gerhard Schröder, er kam aber erst nach mir als junger referendar dort hin.
    er war ein richtig netter.
    tja, die zeiten waren so, leider, es gab natürlich andere, die nicht so verschüchtert und brav
    waren wie ich, die haben dann gleich einen anderen weg genommen. aber (außer der lehrzeit) möcht
    ich diese erfahrung eigentlich auch nicht missen, vieles kam mir später zugute (steno, schreibmaschine etc.).
    danke für den hinweis auf juttawilke, das werde ich heute noch lesen!
    viele sonnige grüße ins schöne Basel!
    Sylvia

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