Blaumann

Von | 26. Februar 2006

Du traust dich ja doch nicht, traust dich nicht, traust dich nicht! Sie knüpft eine Schlinge in den weißen Zwirnsfaden und legt sie um den Zahn. Langsam schließt sie die Augen, zupft am Faden, noch einmal, noch einmal. Der Faden zittert, sirrt leise, es summt in den Kopf hinein, der Zahn bleibt im Mund. An die Türklinke, den Faden mußt du an die Türklinke binden, dann mit einem Ruck die Tür zuschlagen, hat ihr Bruder gesagt, aber du traust dich ja doch nicht.

Sie entfernt die Schlinge vom Zahn und wirft den Faden auf den Boden. Sie läuft aus dem Zimmer und schlägt die Tür hinter sich zu. Sie rennt davon, rennt die Straße entlang zu den Bahngeleisen, wird er da sein, man weiß nie genau, wann er kommt, man spürt es vielleicht, wenn es soweit ist, aber genau weiß man es nie. Heut vielleicht, heut vielleicht, heut vielleicht. Sie rennt nicht mehr, sie hüpft, sie summt, die Haare fliegen. Ein plötzliches Glück, ein warmer Knall im Bauch wenn man zur richtigen Zeit ankommt und die Lok wie ein grüner rauchender Drache um die Kurve biegt.

Sie steht und schaut. Die Gleise, still funkelnd in der Sonne, die grauen Steine zwischen den Schwellen staubig und fleckig von Öl. Sie kickt einen Stein zur Seite, rupft ein Büschel wisperndes gelbes Gras, lauscht. Sie kniet sich hin, räumt Steine beiseite, Schicht um Schicht, bis sie das Kästchen findet, ihren Schatz, ihr Geheimnis. Kostbare Dinge, Münzen, eine blasse schuppige Hühnerkralle, Bonbons in grünem Papier, zwei kleine Zähne wie Perlen. Perlen und Geschmeide einer Prinzessin. Geschmeide, flüstert sie. Perlen und Gold und Geschmeide für die Prinzessin. Sie nimmt ein Bonbon, schließt rasch den Deckel, begräbt das Kästchen, verwischt alle Spuren. Sie wählt einen Stein aus dem Gleisbett, legt ihn auf die Schiene und geht.

Kathi komm, Kathi mach hin, Kathi, Kathi, mach deine Hausaufgaben. Ka-tha-ri-na! Katharina heiß‘ ich. Kathikathikathi! Sei still! Sie funkelt, sprüht Zornesblitze, drohend wie die dreizehnte Fee. Heftig zieht sie die Feder über das Blatt, blaue Tinte spritzt, dicke Flecken, kleine Seen. Königsblau hat die Mutter gesagt, königsblau ist das, königsblau. Königsblaue Kleckse, sie pustet in die Kleckse, königsblaue Linien eilen durch das Weiß, sie dreht das Heft, pustet, königsblaue Linien kreuz und quer, feine Risse, aus denen Gestalten klettern, Gesichter, die Geschichten erzählen, Geschichten vom königsblauen Ritter, der reitet auf dem grünen Feuerdrachen, der sucht seine Prinzessin und kann sie nicht finden, kann seine Prinzessin nicht finden, weil er nicht weiß, welche die richtige ist. Weil sie nicht weiß, welches Geheimzeichen sie benutzen muß, damit er sie erkennt. Sie weiß, er ahnt, daß sie es ist, aber sie muß ihm das Zeichen geben, das richtige Zeichen, ruckediguh, kein Blut ist im Schuh.

Sie hat es noch nicht gefunden. Nie ist es das Richtige. Immer fährt er vorbei, nie hält er an, um sie mitzunehmen, nie. Ja, er winkt, er lacht, dieses Lachen, dieses helle Blitzen aus dem Ruß in seinem Gesicht, seine Augen wie blaue Glasmurmeln, wie die Murmeln mit dem höchsten Wert beim Spiel. Na, Kleine? Ein Bonbon kommt geflogen, ein Bonbon in grünem Papier. Manchmal ein Groschen, da, fang, Kleine. Na Kleine da fang Kleine. Kleinekleinekleine! Sie schlägt mit der flachen Hand auf das Blatt, blaue Tröpfchen spritzen kühl in ihr Gesicht. Ferkel, altes Ferkel. Jetzt sieh dich an. Pfui Teufel. Blaue Hände, blaues Gesicht, blaue Sprenkel zwischen den roten und gelben Rosen auf ihrem Kleid. Die blaue Prinzessin. Alles muß jetzt immer blau sein, die Einbände ihrer Schulhefte, nein, nicht dieses Blau, königsblau, das ist dunkler, viel dunkler! Der wwwe Pullover, der wwwe Schlafanzug. Blau blau blau sind alle meine Kleider, blau blau blau ist alles was ich hab, darum lieb ich alles was so blau ist, weil mein Schatz ein Blaumann ist. Sie kichert, keucht, krümmt sich, hustet, Blaumann, Blaumann mit Ruß im Gesicht. Sie kichert, keucht, hustet, bis ihr die Tränen in die Augen schießen, bis sie kichert und heult in einem, bis es sie schüttelt wie in der Achterbahn, wenn sie von ganz oben in die Tiefe donnert.

Richtig süß ist das Bonbon nicht, mehr scharf und süß zugleich. Wenn man tief atmet, ist es wie Eiswind da drin, wie Schnee. Sie sitzt in ihrem Versteck in der Abseite, den Kopf auf den Knien, läßt den splittrigen Klumpen langsam im Mund zergehen. Eiswind im Sommer, scharf und süß. Da, Kleine. Sie schließt die Augen, sieht ihn lachen, winken, schon vorüber, immer so schnell vorüber, das Zeichen, welches ist das Zeichen?

Sie nimmt ihr Messer, zieht einen frischen Block aus dem Stapel gelber Kernseife, die unter den Dachsparren lagert und beginnt zu schnitzen. Eine Katze hat sie schon fertig, einen Fisch, einen Vogel. Behutsam schabt sie Span um Span aus dem Block, legt einen Kopf frei, arbeitet den Rumpf, die Arme und Beine heraus, glättet die Kanten. Sie holt ihren Tuschkasten, spuckt in den Napf mit dem Königsblau und bemalt die Figur, rückt sie zum Trocknen in den Streifen Sonnenlicht, der schräg durch die Dachritzen fällt. Das Zeichen, das soll das Zeichen sein, das schenk ich ihm, bald.

Sonntags geht sie zum Konditor, Eis holen zum Nachtisch, die Glasschüssel im Einkaufsnetz. Da sieht sie ihn sitzen, fremd in seinem weißen Hemd, an dem kleinen Tisch gleich neben dem Eingang. Sie steht und starrt, er bemerkt sie nicht. Er flüstert mit einer, die da nicht hingehört. Mit einer, die Dauerwellen hat und rotlackierte Nägel. Die an einer Zigarette zieht, die den Kopf zurückwirft und lacht, die ihre Hand auf seinen Arm legt. Die ihn auf den Hals küßt.

Zehn Kugeln, bitte, sagt sie, Schoko und Vanille, ja, Sahne auch, ja. Sie zahlt und geht hinaus, die Schüssel schlägt gegen ihr Bein bei jedem Schritt. Auf der Stufe vor dem Haus gegenüber sitzt sie und wartet, knipst den Schorf von ihrem Knie und wartet.

Sie folgt ihnen, folgt ihnen den ganzen Weg, schlau und geschickt, wie Indianer, drückt sich in Hauseingänge, duckt sich hinter Büsche. Er hat seinen Arm um die gelegt, sie gehen eng beieinander, ihr Kopf an seiner Schulter. Die Falsche! will sie rufen, das gilt nicht, das ist die Falsche! Sie bleiben stehen und küssen sich, da dreht sie sich um und rennt davon, die Schüssel schlägt gegen ihr Bein bei jedem Schritt, das flüssige Eis schwappt über und rinnt ihr in die Kniekehle, eklig, wie das klebt, eklig.

In der Abseite sitzt sie und starrt auf die flirrenden Staubteilchen, die die blaue Figur umtanzen. Sie beißt sich auf den Finger, fest, ganz tief, bis es wehtut, bis ihre Zähne ein regelmäßiges blaurotes Muster hineingeprägt haben. Der lose Zahn knickt weg und hängt am seidenen Fädchen, ein wenig Blut, ein Ruck und er ist draußen, Türklinke, brauch ich nicht, Quatsch, Türklinke. Den kleinen weißen Zahn wirft sie in die finsterste Ecke, die blaue Figur gleich hinterher.

Die Gleise, still funkelnd in der Sonne, die grauen Steine zwischen den Schwellen staubig und fleckig von Öl. Der Stein von wwwlich ist zu Pulver geworden, die großen Eisenräder haben ihn fein gemahlen. Sie pustet hinein, bis nur noch ein zarter Schatten übrig ist. Sie gräbt ihr Kästchen aus, verstreut den Inhalt, sammelt alles wieder ein. Sie spielt mit den Steinen zwischen den Gleisen, singt leise das Lied, blaublaublau, hört von Weitem die Lok, die Schienen summen, blaublaublau, die Schienen vibrieren, es rumpelt heran, sie spielt, sie singt, sie hört das Pfeifen der Lok, verhalten, bald immer drängender, sie spürt das Beben der Geleise, blickt hoch, steht auf und schaut ihr ruhig entgegen, wartet, bis es fast zu spät ist, wartet und springt rasch beiseite. Das Quietschen der Bremsen, die fauchende Lok kreischt, ruckt, steht endlich still wie erschöpft. Er springt aus dem Führerhaus, kommt auf sie zu, wie klein er ist, wie klein. Mit der flachen Hand schlägt er ihr ins Gesicht, dummes Gör, bist du verrückt geworden? Der brennende Fleck auf ihrer Wange wächst, wächst in sie hinein, heiß ist ihr, glühheiß, Blaumann, blöder Blaumann. Sie lacht ihn aus, lacht ihm laut ins Gesicht, tschüß, Blaumann. Sie dreht sich um, sie geht davon, das Geräusch der Räder der anfahrenden Lok hört sie nicht mehr.

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