ICE2

Von | 12. Februar 2006

ICE-Expreß Hannover-Heidelberg, 6 Uhr 50 ab Hannover, ein Großraumwagen, fast leer. Geruch nach Reinigungsmitteln. Ich nehme Platz. Ich hier ganz allein in diesem Fernwehsessel, die Großbildglaswand, das südliche Hannover. Ich auf der Reise, das mittelalte Pärchen am Nebentisch, BILD-Zeitung und das Goldene Blatt, Kaffee aus der Thermoskanne, unter dem Tisch berühren sich ihre Füße sehr leicht, Sandalen und Pumps, Pumps und Sandalen, Sandalen, diese gleichgültige Zweisamkeit und ich hier ganz allein und Stromdrähte wie Saiten, an denen der Zug entlangsingt, die Kleiderhaken in dem grünen Schrank mit den kleinen schräggeschnittenen Spiegeln leer, Gepäckablagen leer, wer reist schon so früh, only you und das Pärchen, lonely me und MITROPA Genuß in einem Zug in einem Zug in einem Zug, weite grüne Landschaft, schräg rechts über die Weide zuckt der Schatten der Lok, Kühe frühstücken mit gesenkten Köpfen, schwarz, Tunnel, Heimatfilm unterbrochen, im Fernsehen käme jetzt die Werbung, wo bleibt die Werbung, diese schwarzen Sehlöcher könnten sie doch nutzen für die Werbung, Licht, Punkte, Lichtpunkte, grüne Lichtpunkte, Lampen sind das, Balken, dunkle horizontale Riefen. BILD-ZEITUNG: „Ganz www: Beichten am Computer“. Kaffeeee Teee? Einen Kaffee bitte. Milch? Zucker? Milch. 5 Mark. Danke. Der Euro – stark wie die Mark. Werk Kassel ATRIUM Kassel-Wilhelmshöhe Kofferkuli gegen Pfand, PAPIER RESTMÜLL GLAS Känguruh-Möbel sb, sehr geehrte Fahrgäste, wir möchten Sie auf den Gepäckservice, sehr geehrte Fahrgäste, auch in diesem ICE-Expreß können Sie aktuelle Tageszeitungen. Ablenken, warum wollen sie einen immer ablenken, als sei das Fahren eine lästige Veranstaltung, von der man abgelenkt werden muß, als sei das Fahren nicht Ereignis genug, Kaffee und Tee und Bier und Wein und Sandwich und Video, Ohrstöpsel säuseln Klassik Pop Rapunzel, aktuelle Tageszeitungen, Verschanzungen. Wenn du so sitzt und schreibst, ab und zu aufblickst, werden sie mißtrauisch, sie beobachten dich in der Fensterscheibe, was spioniert sie da, was hat sie da zu schreiben, ist sie eine Spionin, die unser Reisen beschattet, aber wieso, wir haben nichts zu verbergen, wir sind ein anständiges Ehepaar. Sie ruckt mit dem Kopf, zupft ihren Pony gerade, schenkt ihm Kaffee nach, zeigt ihm die Illustrierte, „sowas würd‘ ich mir schon eher gefallen lassen, sowas Geschmeidiges hier, aber wo soll ich das anziehen?“ „Hm.“ Fulda Papierfabrik Raiffeisen Hessenland Eika-Kerzen Jägermeister. Jägermeister. Europcar. Fulda, da rumpelt, da schnattert er durch, Reisen im Luxuscontainer, Schotten dicht, unterkühlte geschlossene Gesellschaft, kaum Fahrgeräusche, nur dieses bronchitische Piepen beim Abfahren. Abgeschottet. Air-condition. Hält nur in wenigen Städten. Hier reist der Teppichboden kleingemustert, schräge grünrosa Rechtecke. Diese merkwürdig unentschiedenen Farben, Sitze wie Chefsessel, die Kopfkissen schlappe graue Airbags, wie viele ihren fettigen Kopf da schon abgelegt haben, Schuppen womöglich, wie hieß gleich dieses – Alpecin-forte, und er, mit diesen weißlichgrauen Placken auf den Schultern, er, der immer so gierig über seine Brille schielte und so verschämt an seinem Ring rumdrehte, stell dir mal vor der hätte hier gesessen, ih, oder ob sie die Dinger immer gleich wieder waschen, nee, glaub ich nicht, dann müßten sie ja jedes Mal, nee, gar keine Zeit, keine Zeit, wie lange halten die Züge eigentlich am Endpunkt, können sie die dann schnell austauschen, nee, das wird bestimmt nicht, bestimmt nicht nein nein, wie eklig ach schade so müde die dunklen Tunnels so langweilig so müde „Diiiie Fahrscheine bitte!“, die Sparschweine bitte, Personalwechsel, welches Schweinderl
hätten’s denn gern, der Schaffner kommt, der Robert Lemke der grinst, der ist doch tot? mit einem großen Beutel wie ein Känguruh voller rosa und blauer und gelber Schweinchen, die Fahrgäste zerren und reißen und hängen sich an seinen Rock, ein Schweinderl, ein Schweinderl, ich will ein Schweinderl, ein goldenes bitte bitte, ein goldenes mit drei goldenen Haaren wie der Engel der Rauschgoldengel an Weihnachten o bitte bitte der Rock zerreißt, die Fahrgäste weinen große glitzernde Tränen, sie werfen sich auf den Schaffner und sie rupfen an seinen Haaren, die Haare reißen ab und es schneit aus seinem Kopf, große weiße Schuppen schneit es weiß, alles weiß, die Schweinchen springen aus dem Sack und rutschen aus auf dem Schnee, sie quieken und winden sich und spucken rote Ziffern aus, die marschieren und geraten aus dem Takt, die Eins spießt die dicke Null auf, die zischt und schnurrt zusammen und wo muß ich umsteigen fragt sie noch ja und dann auf dem gleichen Bahnsteig goldene ham wir nicht so lassen Sie mich doch, so lassen Sie doch los mein Gott, Sie müssen erst die Handbewegung, Sie, vorher gibts kein Schweinderl, die Handbewegung, Sie, hallo! Hallo! Kann ich mal Ihren Sparschwein, hallo, hallo Sie. Ihren Fahrschein bitte, Personalwechsel. Ach Verzeihung, Moment, wo hab ich denn, Moment, da, Verzeihung. Entschuldigung. Bitte.

„Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Zugchef. Die Abfahrt wird sich um wenige Minuten verzögern, wir haben eine Weichenstörung.“

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