ich erinnere mich…

Von | 12. März 2018

…an meine deutschlehrerin in der grundschule, wie alt mag sie gewesen sein? schlank, grauhaarig, mit aufmerksamen blauen augen, die vor vergnügen funkeln konnten. aber auch zornige blicke werfen. Adelfine K.; zwischen dem alten schnapsgesichtigen rohrstockschläger, der verschüchterten junglehrerin, der sportlehrerin mit ihrem bellenden ewigen „jamterammterammtammtamm“ war sie mein lichtblick. wenn sie mich ansah, fühlte ich mich richtig. gesehen und verstanden.  als mein vater es sich nicht vorstellen konnte, mich auf die höhere schule zu schicken, kam sie zu uns nach hause. sie ging nicht eher, bis sie meinem vater ein Ja abgetrotzt hatte. wenigstens mittelschule. wenigstens das. dass ich die aufnahmeprüfung bestand,  erstaunte mich sehr. war ich vielleicht doch nicht so dumm und störrisch, wie der rohrstockschläger behauptete? als ich dann zur mittelschule ging, lud mich Frau K. ab und an zu sich ein. zum kakaotrinken. ein bisschen eifersüchtig war ich auf  ihre große tochter. aber das war bald vergessen. wenn ich in ihrer stube an dem großen fenster saß und in die bäume guckte, war ich glücklich. und heute noch bin ich glücklich, dass ich ihr begegnen durfte.

wie komme ich jetzt darauf? ich lese ein buch: „Der erste Mensch“ von Albert Camus. die geschichte einer kindheit und jugend in einem armenviertel in Algier. auch dem protagonisten begegnet ein lehrer, der ihn „sah“. ich lese und lese und kann nicht aufhören. die kinder, die aus „nichts“ ihre spielzeuge herstellen, tagelang selbst erfundene spiele spielen. die mutter. die großmutter. der onkel. das geschlachtete huhn. er erzählt so sinnlich, die straßen, die häuser, das licht, die gerüche, die geräusche. das buch hat mich sofort gefesselt und hineingezogen und es kommt mir manchmal vor, als sei ich in meiner eigenen kindheit gelandet, ganz anders, aber tief verwandt. er erzählt das helle und das dunkle, das leichte und das schwere und es ist ein großes atemloses vergnügen, das zu lesen. zwei drittel des buches sind verschlungen. das letzte wartet morgen auf mich. ich kann es schon jetzt sehr empfehlen.

8 Gedanken zu „ich erinnere mich…

  1. Quer

    Das Buch habe ich auch gelesen (es ist schon lange her) und ich kann dir nur beipflichten, Sylvia. Es ist ein grosses Geschenk, Menschen zu begegnen, die einen liebevoll begleiten und fördern.
    Dir viel Freude beim Fertiglesen des Buches und herzlichen Gruss,
    Brigitte

  2. Sylvia Beitragsautor

    liebe Brigitte, ja, es ist wunderbar und
    wichtig und schließt neue türen auf! danke,
    und einen frohen tag wünsch ich…
    Sylvia

  3. wildgans

    Oh!
    Gerade von einer Deutschen gehört, die ein Kinderheim für rumänische Straßenkinder gegründet hat. Das passt!
    Diese deine Lehrerin, großartig! Wo wärest du jetzt ohne sie!
    Das Buch will ich auch lesen.

  4. Sylvia Beitragsautor

    ah da gibts auch einen film (vielleicht noch in der zdf mediathek?) über diese frau
    in dem rumänischen dorf.
    ja, meine lehrerin – wenn ich sie nicht gehabt hätte…
    lieber gruß
    Sylvia

  5. Dietmar Becker

    Regina liest gerade einen Band Erzählungen von Camus und ist ebenfalls total fasziniert. Aber „Der erste Mensch“ ist da nicht drin. Danke, ein guter Hinweis, Sylvia. Ich hab in der 12. Klasse seinerzeit Camus verschlungen, begeistert vom Begriff seiner Revolte und von der Idee, dass sich so etwas wie Sinn ergeben könnte aus dem Widerstand, résistance, gegen das Regime des Absurden in der Welt.

  6. Sylvia Beitragsautor

    wie gut, auch in altvertrautem noch neues finden zu können.
    und ich werde mich dann mal nach den erzählungen umschauen, danke!

  7. Jürgen

    Danke für den Text. Würde gerne noch viel mehr darüber lesen. Gibt es noch mehr Erinnerungen dazu/darüber?

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