Fernweh -ein Beitrag für den 7. Kreativtag bei Ellen – blogroll: Seelenruhig

Von | 9. Mai 2010

1.
In der Nacht flog ich durch Deutschland, weiss-roter Raureifvogel,
flog von Hamburg bis BaselBad, spuckte meine Passagiere auf den
Perron, träumte ihnen hinterher bis an die zugige Rheinbrücke,
wo Helvetia sitzt, kalt, metallisch, angefroren, Reisegepäck zu ihren Füßen.

ice2

Dampfender Fluss, dampfende Fabriken, dampfende Wölkchen vor den Mündern der Passanten, die Richtung Rathaus hasten. Ein Schwarm Vögel krächzt flussaufwärts zu Jean, tinguely tingela schnedderäpännggg tönt es hinter Fenstern, in denen die Schatten seiner Riesenmaschinen auf und nieder zappeln, tinguely tingela schnedderäpännnggggzzzzscht.

brunnen

Der Wind fegt verfrorene Menschenhäuflein gen Eingang, ein gieriger HAPPS – fort sind sie, drinnen, verzaubert mit heissen Ohren. Ein Mann geht weiter, ein Foto im Sinn von Jean, jung, mit wilden schwarzen Locken, mit dem Raubritterschnauzbart, Niki im Arm, die träumt, Spiegelscherben und bunte Mütter, die an Flussufern tanzen.

2.
Der Mann liegt im Bett und träumt. Niki & Jean fliegen Arm in Arm durch die Himmel, stürzen in ein Gemälde von Chagall mit Blumen, Herzen, Tauben und sehnsüchtigen Fiedlern, die schmalzige Liebeslieder geigen. Das gefällt Niki & Jean für ein Weilchen, aber natürlich wird ihnen bald langweilig.“Raus, los, raus mit dir!“ ruft Jean und schleudert einen Mond hinunter.“Komm, du Schatz, geh fliegen!“ ruft Niki und wirft ein rotes Herz. Bald bleibt dem Bild nur noch ein tiefes Blau. Das Blau atmet auf, wird weit und immer weiter, strömt über die Ränder hinaus und über den Himmel hin.

mosaik

3.Es ist Nacht, und Niki & Jean sitzen in einem Park zwischen all den Monden, Herzen, Tauben und sehnsüchtigen Fiedlern. Sie zünden ein Feuer an und braten die Tauben. Im ganzen Park duftet es nach Taubenbraten. Niki & Jean und die Fiedler essen mit Genuss, lecken sich die Finger ab und fallen in einen tiefen Schlaf.

CIMG2886

4. Doch das Blau bleibt nicht allein in dieser Nacht. Eine Hand, sehr rot, durchdringt den dunkel schimmernden Spiegel des Himmels, es folgen Arme Köpfe Rümpfe Beine Füße, in leuchtenden Farben und sternengeschmückt. Das Blau zittert, knistert, zerbirst in magische Scherben, wird zum Meer, in dem Schwimmerinnen schweben, leicht, als schwömmen sie im Toten Meer. Geschweifte Sterne erscheinen, goldene Pfeile weisen die Richtung. Woher? Wohin? Dennoch ist es sehr still dort im Blau. Kein Laut dringt herab zu der Lichtung, auf der
Niki & Jean und die Fiedler schlummern. Das vom Himmel geschleuderte Herz seufzt. Ein kleiner Drache mit roten Augen sitzt unter einem Busch und schaut in die Sterne.

fernweh Kopie

Ein Stern löst sich aus dem Himmelsmeer,
rauscht vom Himmel auf die Erde, fetzt das Laub von den
Bäumen und reisst einen mächtigen Krater auf.

stern

Das ist der Moment, in dem der Mann erwacht. Er lacht leise. Der Traum war schön. Könnte er ihn doch in den Tag retten! Der Mann steht auf und tut, was getan werden muss. Dann packt er seinen Rucksack, steckt Geld und Fahrkarte ein und geht zum Blumenladen, kauft ein, eilig,
der Zug wartet nicht. Der Mann nimmt die Tram bis zum Bahnhof, hetzt die Treppe hoch und steigt ein.

bahnsteig

5.
Der Zug rast durch das Grau und das Braun und das Grün, das glatt da liegt oder sich in Wellen ausbreitet, an Strommasten entlang singt er, saust er, braust er und durch rabenschwarze Tunnels, die nie aufzuhören scheinen.

CIMG4470

Nach Stunden steigt der Mann aus – in der fernen kalten Stadt im Norden, wo es so viel regnet, dass manchen Menschen zwischen Fingern und Zehen Schwimmhäute wachsen. Der Mann kauft sich einen Regenschirm, bunt wie ein Regenbogen und steigt in einen Bus, der ihn durch die Stadt schaukelt bis zum See. Fast genau am Ufer des Sees liegt oben auf einem welligen gemauerten Berg das Museum. Eilig springt der Mann aus dem Bus, zieht seinen Koffer hinter sich her, den welligen stufigen Berg hinauf und schnauft oben erst einmal ordentlich durch. Er setzt sich auf eine kleine Brüstung und schaut über den grauen See. Regentropfen klatschen aufs Wasser und griesgrämige Karpfen reissen ihre Mäuler auf auf der Jagd nach Futter.

fisch

Der Mann lacht und winkt mit dem Regenschirm.

6.
Das sehen die Vögel, in großen Scharen fliegen sie herbei und setzen sich zu dem Mann auf die Brüstung. Ein Riesengezwitscher hebt an und der Mann lauscht und nickt ab und zu. Soso, sagt er, soso. Die Vögel fliegen davon, ein Wind erhebt sich und der Mann hält seinen Schirm hoch, der Wind fährt darunter und hebt ihn in die Höhe, den Schirm, den Mann mitsamt seinem Koffer und dem Blumenstrauß. Der Mann lässt die Blumen los, lässt die Rosen fliegen, weisse, rote, rosa Rosen über den See und in den See hinein, so sie schaukeln auf den Wellen als duftende Geschenkpaketchen und Ausrufezeichen.  Und er – der Mann mit seinem Koffer – segelt weit über den Himmel hin, den Vögeln hinterher. Nach Süden, nach Süden, hört er sie zwitschern. Wie schön! Wie seltsam! denkt der Mann – da komme ich doch gerade her…

vogel

12 Gedanken zu „Fernweh -ein Beitrag für den 7. Kreativtag bei Ellen – blogroll: Seelenruhig

  1. annemarie

    liebe Sylvia

    so ein schöner beitrag! traum-haft aber auch so viele der vorangegangenen beiträge (ach, wär ich doch bloss nicht so schreibfaul, hüstel)

    und wenn du in real mal wieder den jean in basel besuchst sags mir unbedingt vorher. in 45 minuten bin ich da:-)

    herzliche grüsse aus einem dorf im süden wo regenschirme und schwimmhäute auch zeitweise normalzustand sind;-)

    annemarie

  2. Nora

    Tinguely tingela – Deine Geschichte ist wunderbar –
    wie sich die mir bekannten realen Orte mit der Fantasie verspinnnen… 🙂

    LG Nora

  3. seelenruhig

    Liebe Sylvia,

    in aller Seelenruhe bin ich nun, am späteren Nachmittag, nochmals hierher gekommen – um die tollen Fotoarbeiten in Kombination mit dem Fernwehtext zu sehen.

    Dieser Beitrag zum Kreativtag ist etwas ganz Besonderes – ganz eigen in der Art – überraschend – den Leser und Betrachter weckend – ich danke dir nochmals dafür!

    liebe Grüße von Ellen

  4. sylvia

    ihr lieben, ich danke euch sehr für euer wunderbares feedback! hab mich sooooooooooooo gefreut!
    ich kränkel grad ein wenig, deshalb kann ich heut nicht mehr viel durch den kreativtag spazieren, das muss ich alles noch nachholen. aber einige tolle beiträge hab ich schon gelesen. das macht echt viel freude, Ellen, das ist eine supersuperschöne idee, hab ganz dollen dank noch mal dafür!
    und Annemarie – das ist auch ne gute idee, mit sicherheit werd ich im sommer mal nach basel fahrn, wir urlauben in badenweiler, das ist nicht so weit;-)))
    liebe grüße
    sylvia

  5. Birgit

    Eine wunderbare Fotoarbeit und schöner Text – lieben Dank – es hat mir sehr gefallen
    Liebe Grüße Birgit

  6. Tally

    *Gänsehaut*
    Du verbindest zwei der für mich wichtigsten Städte. Hamburg, meine Geburtsstadt, meine Heimat und Basel, dessen Entdeckung mir unendlich viel bedeutet. Die Stadt, in der ich gerne leben würde.
    Kennst du zufällig den Text „aber Basel hat keinen See“ ?
    Bei meinem allerersten Basel-Besuch wurde ich in das Tinguely-Museum geführt. Seitdem änderte sich meine Welt. Jahrelang folgte ich Nikis Ausstellungen durch Europa. Leider mag ich das Sprengel-Museum trotz vieler, vieler Versuche nicht besonders, den Ausblick von dort umso mehr.
    Egal, ob ich für Tage oder für Stunden in Basel bin: Zum Brunnen muss ich einfach.

    Ich komme wieder
    Tally

  7. majorahn

    Manchmal frage ich mich, warum kommen mir NIE solche Gedanken? Warum sehe ICH nicht solche Bilder?
    Wie gut, dass DU die Worte hast und die Bilder siehst und es ist gut, dass du sie mitteilst – meinen Blickwinkel erweiterst. Danke.
    majorahn

  8. Sylvia

    liebe Birgit, liebe Tally,
    auch euch ganz herzlichen dank für eure kommentare!
    liebe Tally, ja, Basel ist eine tolle stadt, ich liebe sie zu jeder jahreszeit;-))) warst du schon mal bei einem „Morgestraich“ dabei? das lieb ich glaub ich am meisten – neben vielem anderen… von Hannover nach Basel ists ein bisschen weit, aber da wir oft im Margräfler Land zwischen Freiburg und Basel sind, ist so ein Abstecher ja gar nicht schwer;-)))

    „Basel hat keinen See“ kenn ich leider nicht, wer hat den Text geschrieben?

    liebe grüße
    sylvia

  9. Malou

    Beim ersten mal Lesen nur die Phantasie, nach dem Lesen der Kommentare die Verquickung mit realen Orten entdeckt – eine wunderschöne Traumreise. Nachdem ich mich am Anfang einfach über den Fluss der Worte gefreut habe, muss ich nun wohl noch ein wenig auseinanderklamüsern…
    Liebe Grüße Malou

  10. Hermann Josef

    Liebe Sylvia,
    starke eindringliche, verschlungene und Neugier weckende Worte und Bilder. Beides gefällt mir sehr gut, wie ich überhaupt finde, dass die Fülle in Deinem Blog in den letzten Wochen so anregend ist. Der Text verführt dazu, sich hineintreiben zu lassen, die Worte zu erspüren bzw. hinter den Worten zu spüren und angetan zu sein.
    Und lass mich das auch mit Basel wissen, wäre ja sehr schön.
    Liebe Grüsse und viel Gesundheit.
    Hermann Josef

  11. ina

    Ich freue mich das Du am Fernweh Projekt teilgenommen hast . Mir tun sich ganz andere (Sprach) Welten auf .
    Nie hätte ich einen solchen Text sonst kennengelernt.
    Ich bin immer wieder erstaunt was in den Menschen verborgen ist – es ist so spannend wie unterschiedlich der/die Einzelne dieses Projekt umgesetzt haben und das ich daran teilhaben kann ist ein Geschenk für mich . Ina

  12. sylvia

    euch allen herzlichen dank für eure kommentare,
    ich freue mich sehr darüber! ich bin noch immer nicht ganz durchspaziert durch all die fernwehbeiträge…
    aber am wochenende werde ich es vielleicht schaffen, euch alle noch noch besuchen…
    liebe grüße
    sylvia

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert