ICE1

Von | 12. Februar 2006

Stundenlang saß ich im ICE und schaute zum Fenster hinaus oder vor mich hin. In den Obstbaugebieten standen Vogelscheuchen in den Bäumen. Die Fahrgäste räkelten sich in den Sitzen und gähnten, und niemand außer mir sah das aufgeregte Winken der Scheuchen in den Zweigen. Vor mir tippte jemand ständig Ziffern in sein Handy, der Servicemann trug Eis durch das Großraumabteil, gefolgt von drei jungen Männern mit Sportkappen, Michelin-Männchen, die durch den Gang schaukelten und sich laut unterhielten. Das Pärchen nebenan saß schweigend, irgendwann zog sie zwei Plastiktüten aus einer Reisetasche, gab ihm eine davon und sie begannen stumm, mit synchronen Bewegungen das Essen auszuwickeln, zum Mund zu führen, zu kauen und hinunterzuschlucken ohne einander anzusehen. Sie sahen auch nicht aus dem Fenster, sondern fortwährend auf die Rückwände der blauen Plastiksitze vor sich, in deren Mitte jeweils ein schwarzes Netz befestigt war. In jedem der Netze hing eine kleine Flasche Cola. Die Frau auf dem Sitz davor las „Crazy“ von Benjamin Lebert und bewegte dabei ihren Fuß in den schwarzen Riemchensandalen, den sie über das rechte Knie gelegt hatte, immerzu hin und her, als müsse sie das Gelenk geschmeidig halten.

Es lag an diesem Tag eine unwirkliche Stimmung über allem, so als wäre etwas Wesentliches aus der Welt davongegangen und für immer verschwunden. Die Parkplätze vor den Supermärkten in den Städten waren leer, auch in den Dörfern war kein Mensch zu sehen, ein weiß verstaubtes Kieswerk wirkte wie lang schon verlassen, Wege und Straßen schienen irgendwo in der Weite zu versickern. In dem schräg geschnittenen Spiegel an der Garderobe sah ich eine unendliche grüne schnelle Bewegung, Bäume an der Strecke, später konnte ich darin Hausdächer und Türme entdecken und immer wieder große Stücke blauen Himmels, die wie alles andere nach links aus dem Spiegel davonflogen und in mir ein Gefühl der Trauer über das unaufhaltsame Vergehen der Zeit weckte.

Die Menschen um mich herum waren nun alle in tiefem Schlaf versunken, bliesen mit zurückgelegten Köpfen und offenen Mündern verbrauchte Luft ins Abteil und ich beobachtete die Werbebroschüren der Deutsche Bahn AG, die bunt an den Haken schaukelten, sah im Spiegel noch einige Wolkenfetzen davonrasen, ließ endlich alles Schauen los und schloß die Augen, im Ohr das Schnarchen eines Mitreisenden und das Fahrtgeräusch des ICE. Der Schlaf empfing mich mit den weichen Händen eines Königs, und ich überließ mich ihm ohne Widerstreben. Er geleitete mich durch Gänge mit flackernden Lichtern, Gänge, in denen ein ständiges Summen, Zischen und Pfeifen zu hören war und einmal das Geräusch einer mechanischen Uhr, die man aufzieht, manchmal Rascheln und Kaffeegeruch, bis ich in einen Keller gelangte, in dessen Zentrum ein großer schwarzer Ofen stand. Der ganze Raum vibrierte und ich hörte Menschen flüstern und unterdrückt lachen. Als ich nähertrat bemerkte ich, daß der Boden auf dem ich ging, nachgiebig war, als liefe ich auf den elastischen Körpern durchtrainierter junger Menschen ohne Knochen. Ich stockte, plötzlich stand ich im schmerzenden Licht eines Scheinwerfers und eine Lautsprecherstimme rief meinen Namen in den Raum und eine Nummer: 289. Der Scheinwerfer erlosch und sofort erhoben sich aus dem Dunkeln wieder die Stimmen, die flüsterten und lachten, die Ofenklappe flog auf und ich sah den Himmel davonfliegen in Weiten, von denen ich nie etwas geahnt hatte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert