staubige finger

Von | 19. Februar 2021

staubige finger, müde augen. die kisten, schachteln, kartons, die wir hervorziehen aus der dunklen ecke hinter dem dicken alten holzschreibtisch oben, ganz dahinten. erinnerungsspeicher, voll bis an die ränder.

es beginnt mit den eigenen geschichten, kinderzeit, freundinnen, spiele, eltern, brüder, parties, freizeiten, theaterspielen, hochzeit, wanderungen. wo? wann? wer? vieles wissen wir noch, manches erinnern wir nicht, überhaupt nicht. wir lachen viel, erzählen, lang. schweigen, lang. manches fliegt in den papierkorb, verblichene landschaften, kaum noch zu erkennen.

die menschen behalten wir. viele sind schon dahin. da hin, wo wir sie besuchen auf unseren wegen durch die stillen schönen totenoasen mitten in der stadt. bunte träume gibt es des nachts, in denen sie auferstehen, ach was, nein, einfach wieder da sind und mit uns laufen, lachen, schimpfen, reden.

dann kommen die schachteln mit den fremden leben. schon die eltern legten sie in ihr pappversteck. die ahnen und ihre freunde, alle in fremden schwarzen kleidern, verhängt wie ihre fenster und möbel, keine luft, kein licht. urgroßeltern, großeltern erkennt er. die anderen nicht. wer mögen sie sein, niemand schrieb ihre namen auf die rückseiten. manchmal eine postkarte, verehrtes fräulein, mit spitzen buchstaben gestochen. seltsam.

über die altertümlich anmutenden landschafts- und familienfotografien gebeugt sinne ich darüber nach, wie sich sujets und bewahrenswertes im laufe der zeit verändert haben. gibt es das noch, dass sich ganze familien ablichten lassen beim fotografen, der fotografin? vorher sich „ordentlich“ anziehen und kämmen müssen? dass vor dem „klick“ eine landschaft, ein blick, ein häusermeer lange und oft angeschaut werden, sorgsam beobachtet, bis der richtige augenblick da ist? und dass dann alles in alben wandert (oder in unserem fall eher nicht), nie mehr gesehen? oder in ordentlichen rahmen aufs vertiko, von dort uns anblicken, melancholisch, streng, in kleider gezwängt, die ihnen die luft abschnürten?

viele ahnenfotos besitze ich nicht, kind zweier geflüchteter, alles hin und weg. bis auf ein paar gerettete bilder. muttermutter. vatermutter. muttervater, vatervater. mutterstiefmutter. aber das ist eine andere geschichte.

5 Gedanken zu „staubige finger

  1. Quer

    Wehmut und Melancholie wehen aus deinen Beschreibungen. Ach, wie viel man zurück lässt, unwiderbringlich, vergessen und im Weltenwind verweht…
    Lieben Abendgruss,
    Brigitte

  2. Sonja

    Familiendynamiken, auch im Nachhinein, haben Sogwirkung…immer das Wer, Wie, Was und Warum…
    Ich hab`s aufgegeben, jedenfalls vorläufig.
    Gruß von Sonja

  3. rosadora

    bei mir stapeln sich auch gerade die kisten – fotos – briefe auch. aus meiner kindheit gibt es nicht allzu viele – man ging zum fotografen. fotoapparate hatten wir noch nicht. und die geschichten – sie sind in meinem kopf – des nachts, wie du schreibst und reichen bis in den morgen – in den tag…
    liebe grüße
    rosadora

  4. mona lisa

    Erinnerungsarbeit kann manchmal ganz schön anstrengend sein.
    Bilder zu machen war ja früher auch ein viel größerer Aufwand. Vielleicht gab’s deshalb auch weniger, aber ggf. auch eine größere Wertschätzung.
    Ich weiß oft nicht, was weg soll und was ich behalten will, weiß aber, dass ich nicht irgendwann nur noch von Erinnerungen zehren möchte.
    Liebe Grüße

  5. Sylvia Beitragsautor

    ihr lieben,
    ja, erinnerungsarbeit ist schon anstrengend. ein paar tage „dazwischen“ brauche ich immer. dann kommt die nächste kiste:-). tröstlich ist, dass auch unsere altvorderen nicht so viel in alben sammelten. viele beginne – dann kommen doch wieder diese tütchen. es ist und bleibt spannend!
    liebe sonntagsgrüße
    Sylvia

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